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KULTUR UND ANDERE SCHOCKS
Im Februar des Jahres 1983 stieg ich am Ufer des Flusses Queuco
in der Andenkordillere vom Pferd um mit Elvira einen Bus nach Santiago
zu nehmen. Von Santiago aus reisten wir per Anhalter bis Arica und
von Arica aus erreichten wir Lima mit einem Bus der Linie Schwarzes
Engelchen. Die Einzelheiten dieser zweitägigen Reise
nach Lima möchte ich lieber ein anderes Mal erzählen,
zum einen weil ich glaube, dass ich noch nicht so weit bin, diesen
heroischen Akt zu enthüllen, zum anderen weil er alleine schon
den Stoff für eine Novelle abgeben würde.
In Lima stiegen wir in ein Flugzeug der Linie Aeroflot - eine Odyssee,
deren Erzählung ich aus den gleichen Gründen wie die Busreise
nach Lima für einen späteren Zeitpunkt aufhebe.
Am nächsten Tag trafen wir im Flughafen von Frankfurt ein.
Dort erwarteten uns die Eltern von Elvira mit einem Mitsubishi,
mit dem sie uns nach Lügde brachten. Bis zu diesem Zeitpunkt
kannte ich nur den Schnee der Andenkordillere und den, der bei Punta
Arenas bis ins Meer fiel. Die Strecke machte einer Postkarte Konkurrenz.
Hier waren die Tannenbäume mit richtigem Schnee bedeckt und
nicht mit Watte, wie zu den europäisch-chilenischen Weihnachten.
Die Straßen hatten nicht ein Schlagloch und das Wild sprang
auf den Spitzen seiner Hufe wie im Film. Diese fast idyllischen
Eindrücke, die ich vom Fenster des Mitsubishi aus aufnahm,
kontrastierten deutlich mit der kommunikativen Aura im Innern des
Wagens, denn schließlich verstand ich kein Wort von dem, was
sie miteinander redeten und es schien mir, dass sie sich ständig
über irgend etwas stritten. Aber in Wirklichkeit streichelten
sie sich quasi mit Worten, denn sich hatten sich fast vier Jahre
nicht mehr gesehen. (Mit der Zeit sollte ich mich an den scharfen
Klang so vieler Konsonanten hintereinander und den brüsken
Tonfall der deutschen Sprache gewöhnen.)
Ich sehnte mich nur danach, irgendwo zu halten, wo ich mir die
Füße vertreten und frische, kalte Luft schnappen konnte,
denn durch die Heizungsluft des japanischen Autos fühlte ich
mich dem Koller nahe. In der chilenischen Kordillere vom Pferd steigen,
um in einem Flugzeug der Aeroflot mit Gestank nach Vodka und Habanos
seekrank zu werden und in Deutschland in einem japanischen Auto
zu ersticken...???!!!
Die Tortur begann in Hameln zu enden. Ich war völlig verblüfft,
dass dieser Ort wirklich existierte und dass die Legende genau von
dort kam, wo ich jetzt meine Füße auf den Boden setzte.
Es war also keine Lügengeschichte von Kindermädchen. El
flautista de Hameln!, rief ich Elvira zu. Wo?,
fragte sie, und schaute sich völlig überrascht um. Sie
kannte die Geschichte nicht!
Im Haus von Elviras Eltern verbrachte ich die ersten zwei Monate
am Rande des Erstickungstods, mit ständigem Schwindel aus Luftnot,
wegen der Heizung, die ich von Chile überhaupt nicht gewohnt
war und das nicht, weil es in Chile niemals kalt wäre. Sie
würden mir nicht glauben, wie kalt es dort im Winter sein kann!
Aber Heizung - das war eine Sache der Reichen. Wir wärmten
uns an einem Kohlenbecken (Glutpfanne) und tranken Glühwein.
Jedesmal wenn ich in Lügde vor die Haustür trat, kam es
mir vor, als würde ich aus den heißen Nitrat-Quellen
des Alto Bio-Bio steigen, um mich im eiskalten Wasser des Flusses
Queuco abzukühlen, wie ich das viele Male zuvor getan hatte.
In dieser kleinen Stadt war ich zum ersten Mal in meinem Leben
mit kulturellen Unterschieden konfrontiert. Dort lernte ich - mit
Hilfe unverständlicher Gesten, eiskalten Blicken und stahlharten
Worten - als Fußgänger niemals die Straße zu überqueren,
wenn die Ampel auf rot steht, die Fahrradwege zu respektieren, wollte
ich ärgerliches Klingeln oder Stöße vermeiden, keinen
Hund in seine Schranken zu weisen ohne gleich vom Frauchen angeknurrt
zu werden, nicht den Versuch zu unternehmen, einen Bus mit der ausgestreckten
Hand anzuhalten, ohne als Volltrottel auf der Straße stehengelassen
zu werden, nicht einer Dame Feuer anzubieten ohne als vulgärer
Latino-Macho geoutet zu werden, meine Hand nicht einem Alten anzubieten,
um ihm aus dem Bus zu helfen, ohne fast Schläge mit Stock,
Schirm oder Tüte einzufangen. Über die Tatsache, dass
die Enten in den Parks zum Schmuck da waren, informierten mich Chilenen,
die ein paar Tage im Gefängnis verbracht hatten, weil sie sich
zu Weihnachten einen Schwan gebraten hatten. Im Sitzen zu pinkeln
versuchte man mir später in Kiel beizubringen. Nach dem Resultat
fragen Sie am besten Renate.
Pablo Ardouin / Frankfurt am Main, Oktober 2000
Copyright © Frankfurter Rundschau online 2003
Erscheinungsdatum 10/2000
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