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Tanz gegen die Einsamkeit
DER CHILENISCHE MUSIKER UND DICHTER PABLO ARDOUIN ERZÄHLT
ÜBER DEN TANGO IM HERBST
Jetzt ist schon November. Uns bleibt nur die Erinnerung an einen
Sommer, der endlich einmal anders war als dieses amorphe, launische
Etwas, an das wir uns schon gewöhnt hatten. Nun werden die
Blätter in gehässigem Wahn von den Bediensteten des Gartenamts
fortgefegt, die ihre Maschinen des Fortschritts ergreifen, um uns
im Morgengrauen mit ohrenbetäubendem Getöse aus dem Schlaf
zu reißen. Es ist eine entsetzliche Angewohnheit, uns auf
diese Art die einzige Schönheit des Herbstes zu rauben: die
goldenen, bronzenen und roten Farben und uns schmerzlich daran zu
erinnern, dass alles mit der Zeit alt und nutzlos wird. Ich habe
einen skandinavischen Freund, der den Herbst aus denselben Gründen
hasst, aus denen er Abneigung gegen den Tango empfindet. Mein Freund
findet beide traurig, nostalgisch und depressiv. Er meint, sie seien
eine Einladung zum Selbstmord. Und tatsächlich: betrachtet
man die Selbstmordraten im Norden Europas gerade im Herbst, wäre
man gezwungen, ihm Recht zu geben. Aber die Schweden lieben im Allgemeinen
den Tango. Lieben sie auch den Herbst und die Nostalgie?
Ich wage zu behaupten, dass es nicht der Tango ist, der die Nostalgie
sucht. Es ist die Nostalgie, die in ihm ihren Zufluchtsort gefunden
hat. Die Nostalgie braucht den Tango und nicht umgekehrt. Der Tango
traurig und depressiv? Der Tango kann auch aufmüpfig, nihilistisch,
anarchisch, widerspenstig, wütend und leidenschaftlich sein.
Lädt er wirklich zum Selbstmord ein? Am Rio de la Plata, zwischen
Argentinien und Uruguay, der eigentlichen Heimat des Tango, waren
- soviel ich weiß - die einzigen, die sich wegen des Tango
umbrachten oder es zumindest versuchten, ein paar Verrückte
bei der Beerdigung von Carlos Gardel in Buenos Aires 1935. Die Selbstmörder
waren Puristen, die glaubten, Gardel sei der Tango und Tango sei
Gardel. Das wäre das Gleiche, als würde man behaupten,
der Fußball sei Maradona und Maradona der Fußball. Oder
Evita Argentinien und Argentinien Evita. Wie auch immer, der Herbst
kann uns wirklich zusetzen, uns traurig, nostalgisch und schlecht
gelaunt werden lassen.
Mein Rezept gegen diesen Effekt - der Theorie meines skandinavischen
Freundes zum Trotz - ist, zu lernen, dem Tango wirklich zuzuhören
und hoffentlich auch ihn zu tanzen, aber in seiner reinsten, unverdorbenen
Form, frei von Show-Elementen mit denen man ihn hier in Europa eher
in eine Akrobatik-Kunst verwandelt hat. Durch diese wundervolle
Musik und den Tanz lassen sich verbannte und versteckte menschliche
Leidenschaften wieder entdecken, die uns von der grauen Alltagsrealität
gestohlen wurden: die Libido, der Körperkontakt, die Freude,
sich in die Augen zu schauen und zu spüren, dass wir nicht
allein sind, ausgeliefert jener Einsamkeit, die der Herbst uns aufzwingt,
wenn er uns mit seinen Wetterlaunen dazu treibt, uns einzuigeln.
Den Tango zu tanzen - natürlich mit dem geeigneten Partner
- kann bedeuten, endlich wieder den Höhepunkt zu empfinden,
den zwei aneinander geschmiegte Körper bereiten, das Blut in
Wallung, gemeinsam zu schwitzen und all dies ... in aufrechter Haltung!
Frankfurter Rundschau, 13.11.2003 / Pablo Ardouin
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