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LOCAL HERO:
NELSON ALVAREZ, GENANNT EL CANELA,
ZU DEUTSCH: DER ZIMT
Stachel im Fleisch
Mit kraftvollen Worten bot er den Militärs die Stirn
und wird dafür nicht nur in seiner Heimatstadt Concepcion bis
heute vereehrt: El Canela, Straßenhändler, Anarchist
und Dichter.
Von Pablo Ardouin
Die Konsumpaläste "Mall" sind mittlerweile für
nicht wenige Chilenen das bevorzugte Ausflugsziel in freien Stunden
oder an den Sonntagen. Zuweilen befällt einen die Sorge, diese
Malls würden mehr und mehr zu Wallfahrtsstätten einer
yankeesierten Gesellschaft werden, die unter Amnesie und Entwurzelung
leidet. Vielleicht aber tut man allein schon mit dieser Sorge den
Chilenen Unrecht, weil man an einem romantischen Bild vom ursprünglichen
Chile festhält, wie es vor allem die Straßenverkäufer
bieten. Sentimental stimmen sie einen allemal - diese Ein-Mann-Malls
inmitten der sich immer mondäner gebenden Innenstädte.
Die bekannteste, volkstümlichste und traditionellste Ein-Mann-Mall
meiner Heimatstadt Concepción, 500 Kilometer südlich
von Santiago de Chile, ist die von El Canela gegenüber der
Plaza de Armas, an der Ecke des Rathauses. Sie besteht aus einem
Karren mit Metallrädern, auf dem Regale und Haken angebracht
sind für alle möglichen Utensilien und Kleinkram: Sonnenbrillen,
Geldbeutel, Gürtel, sonstige Lederwaren, Ohrringe, Ringe und
Anhänger, Luftballons und kleines Spielzeug für Kinder
oder Erwachsene, die davon träumen, wieder Kinder zu werden.
El Canela, dessen richtiger Name Nelson Cecilio Alvarez Riquelme
lautet, der Eigentümer dieses Services am Passanten, den er
"mein Büro" nennt, ist die bekannteste und beliebteste
Persönlichkeit in Concepción und Umgebung, ja sogar
mit unbestreitbarer Bedeutung auf nationaler Ebene. Die eigentliche
Berufung El Canelas ist die Volkspoesie und die "Paya",
eine Tradition, die aus der Kolonialzeit stammt. Sie besteht darin,
spontan in Versen zu sprechen, deren Metrik und Rhythmik festgelegt
und ein Vermächtnis der Decima Espinela ist, die von spanischen
Bänkelsängern während der Conquista nach Lateinamerika
gebracht und deren Form nach ihrem Schöpfer, dem spanischen
Dichter Vicente Espinel, benannt wurde.
El Canela ist aber nicht nur Gelegenheitshändler und Poet,
sondern auch Geschichtenerzähler und Fabulant, Eroberer verlorener
Herzen und Seelen, trinkfester Kumpan, Streitschlichter, Wegbereiter,
Öffentlichkeitsarbeiter, aktiver Repräsentant jener verlorenen
Sache, die die große Mehrheit seiner politischen Generation
angesichts Neoliberalismus und der globalisierten Welt längst
aufgegeben hat, einer Welt, wie sie sich Pinochet vor 30 Jahren
erträumt hat, frei von linken Besserwissern, Gewerkschaftern,
Subversiven, Fragenstellern und Verteidigern von Rechten der einfachen
Leute.
In Chile würden wir sagen, El Canela ist ein "bonachón
subversivo" (deutsch: ein "großmütiger Subversiver").
Wenn Sie El Canela auf der Straße begegneten, würden
Sie niemals erraten, dass er die Person ist, von der ich hier spreche.
Sie würden einen Mann sehen mit kleinen, ewig verschmitzt lächelnden
Augen, gut genährt, 1,58 Meter groß, mit kohlrabenschwarzem
Haar, das ihm in ewig vom Schweiß feuchten Strähnen in
die Stirn hängt, mit kurzen, auf Brusthöhe angewinkelten
Armen und Händen mit verkrampften Fingern. Beim Laufen schlurft
er mit den Füßen, ein Bein hinkt merklich. Er trägt
ein Gebiss, was er mit einem Schnurrbart zu verheimlichen sucht,
der dem abgenutzten Schwanzstück einer nassen schwarzen Katze
ähnelt.
El Canela hatte Kinderlähmung. Er stammt aus einer armen
Arbeiterfamilie und ist Sohn eines Minenarbeiters der Kohlenbergwerke
von Lota. Dank der Größe seines Talents, dank seiner
unglaublichen Kraft und seinem unverbrüchlichen Willen schaffte
er es, die Hürden des kulturellen Rückstands, den Analphabetismus
und die schlimmsten Folgen seiner Krankheit zu überwinden.
Dazu beigetragen hat auch eine Generation von jungen Menschen, die
ihn unterstützte und ihn bei seinen Auftritten unter der Diktatur
zujubelte, weil er, El Canela, ungezügelt Vers um Vers dem
repressiven System entgegen schleuderte mit breitem Grinsen und
nicht, wie viele von uns, die Dinge zwischen den Zeilen durchscheinen
ließ, um der Gewalt der Militärs, der gefürchteten
Dina und der Carabinieros zu entgehen. Viele, die ihn damals bewunderten,
bejammern heute ihre gescheiterten Träume und trösten
sich mit Regierungs- und Machtpositionen und einer Politik, die
ihren einstigen Überzeugungen widerspricht. Andere versuchen,
mit ihren Alltagsproblemen alleine fertig zu werden, und flanieren
sonntags durch die Mall. Um El Canela machen sie einen Bogen, er
kennt sie noch zu gut von früher.
Wenn sie Glück haben, steht er gerade nicht an seinem Metallkarren
Ecke Barros Arana, Anibal Pinto. Dann fädelt er wohl irgendwo
wieder eine Zusammenkunft für den Abend in irgendeinem Café
"mit Beinen" oder an irgendeinem sonstigen Ort mit Poesie,
Gesang und Paya ein, oder er schlichtet eine Meinungsverschiedenheit
zwischen Freunden, oder aber er tut Buße bei seiner ihm angetrauten
Dominga wegen eines Ausrutschers in der vergangenen Nacht. Dominga
liebt er fast mehr als die Paya, die verschworenen Zusammenkünfte
und den Wein, ja sogar den Wiskey, was in der Welt von El Canela
eine große Ehre ist, zumindest äußerst erwähnenswert.
Ich lernte El Canela Anfang der 70er Jahre kennen, als er an unserer
Tür klingelte. Er kam mit einem Stift und einem Schreibblock
bewaffnet, jung und im Gesicht ein engelsgleiches Lächeln.
Damals schrieb er Liebesgedichte, inspiriert von einem Mädchen
seines Viertels, an das er sich hoffnungslos verloren hatte. Er
suchte Unterstützung, um sich besser in der Welt der Buchstaben
zurecht zu finden, wollte meine Meinung über seine ersten Werke,
ihre Metrik und die Reime hören und sich Gedichtbände
ausleihen, die er sich selbst nicht leisten konnte. Außerdem
suchte er Anschluss an den kleinen Kreis der Poeten und Liedermacher
von Concepción. Er wollte lernen, war begierig nach Wissen,
danach, in die Welt der Nächte der Bohème von Concepción
einzutauchen, er hatte so viel zu sagen und auszudrücken. So
begann unsere Freundschaft.
In dieser Zeit verkaufte El Canela kleine Beutelchen mit Zimt
gegenüber der Plaza de Armas, fast am selben Ort, an dem heute
seine Mall steht, und sein Werbeslogan, der sich im Spanischen selbstverständlich
perfekt reimte, ging ungefähr so:
"Zimtstängchen, schauen Sie, Señora
Beutelchen für jeden Geschmack
bringen Sie Würze in den Topf
und an Ihren Nachtisch
die entscheidende Note"
Aus dieser frühen Tätigkeit entstand sein Spitzname.
Es war bei seinem ersten großen öffentlichen Auftritt
in Concepción im Jahr 1978. Bei meinem Konzert in der Vereinigung
der Schreiner und Tischler entdeckte ich ihn im Publikum und bat
ihn auf die Bühne. Dort stellte ich ihn einer plötzlichen
Eingebung folgend als "El Canela" (deutsch: der Zimt)
vor und begleitete mit der Gitarre seine improvisierten Payas und
Gedichte.
Viele in Concepción erinnern sich noch genau an diese meine
heroische Geste, weil El Canela begann, vom Weltlichen zum Göttlichen
dichtend zu fabulieren, sein Genie, seine Weisheit und Schläue
unter Beweis zu stellen und seinen Mut, als er sich dort den Löwen
vorwerfen ließ. Er ließ weder den Hahn mit Federn noch
die Feder am Hahn, er trank allen Wein und riss die Bühne und
die gesamte Veranstaltung glanzvoll an sich. Es war mir, dem eigentlichen
Zampano des Abends, unmöglich, ihn wieder von dort herunter
zu holen. Hätte es jemand versucht, er hätte sich die
wütenden und erbosten Pfiffe der gesamten Meute, Beleidigungen
und sogar Wurfgeschosse eingehandelt.
Concepción ist im Gegensatz zu Santiago oder anderen Städten
Lateinamerikas keine Stadt, deren Straßen, Plätze und
Parks mit Monumenten angefüllt sind. Wenn aber jemandem an
einem öffentlichen Platz ein Monument zu errichten wäre,
dann El Canela. Er ist das Gedächtnis Concepcións und
Chiles und der Stachel im Fleisch aller Büttel, dessen sie
sich nicht haben entledigen können.
Der Komponist, Musiker und Dichter Pablo Ardouin verließ
Chile im Jahre 1983. Er lebt seither in Deutschland.
MAGAZIN, FRANKFURTER RUNDSCHAU, 30. 08. 2003
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